Mr.Okada
Samstag, 2. April 2005
Frederick Wiseman Retro: Belfast, Maine (USA 1999)
mr.okada | 02. April 05 | Topic 'Retrospektiven'

Der bislang stärkste Film, den ich von Wiseman sah. Belfast liegt am Atlantik, ganz oben rechts, im Norden der USA. Man nennt diese Region, die im Süden etwa bei Boston beginnt und im Norden bis an die kanadische Grenze reicht, New England. Und ich kenne keine Gegend in den Staaten, die sich tatsächlich europäischer anfühlen würde. Man lebt dort in allererster Linie vom Fischfang und der verarbeitenden Industrie. Und die Betrachtung dieser Industrie steht dann auch im Mittelpunkt des Films. Bemerkenswert die Miniaturen, die wiederholt Produktionsabläufe herauslösen, im Detail die Funktionsweise von Arbeitsprozessen aufschlüsseln, in einer Wäscherei, beim Fischfang, immer wieder in Fabriken.

Ziemlich gegen Ende des über 4 Stunden langen Werkes, gibt es eine dieser angesprochenen Miniaturen, in einer Fischkonservenfabrik. Das letzte Bild, mit dem man aus der Sequenz aussteigt, zeigt das Gebäude von außen, im Vordergrund verwildertes Brachland. Dann sind wir wieder auf dem Wasser und man kann wieder durchatmen. Die Atemlosigkeit, die sich bei mir eingestellt hat, fußt auf der unumwundenen Bewunderung für den Schnitt. Klar, Dokumentarfilme entstehen naturgemäß im Schnitt, sehr viel stärker noch als Spielfilme. Bei Wiseman hat das aber noch eine entscheidendere Funktion.

Durch die Verweigerung übliche Dokumentarfilmtechniken aufzugreifen, etwa die Verdichtung auf eine oder mehrere Protagonisten, den Einsatz von Voice-Over u.ä., indem man also das Material für sich sprechen läßt und keine allzu offensichtlichen dramaturgischen Hilfsmittel bemüht (ohne Dramaturgie geht es natürlich auch bei Wiseman nicht ab), geht man den Dingen, wie ich finde, nicht nur nachhaltiger auf den Grund, man gewinnt auch formalästhetisch, durch die Betonung von Rhythmus, von Ausscheren und Wiederaufnahme.

Es braucht schon alleine deshalb auch ausgiebig dioaloglastige Sequenzen - oftmals in Kursen, Gesprächskreisen oder der Kirche - an Orten des öffentlichen Lebens also. Und natürlich geht es Wiseman inhaltlich um ein Aufspüren, um das Nachzeichnen von dem was Leben eigentlich bedeutet. Stärker als in den von mir bislang gesichteten Filmen gibt es aber auch eine Tendenz zur vorsichtigen Kommentierung. Am Ende des 20. Jahrhunderts hat sich die USA in ein Land verwandelt, so der Eindruck den der Film suggeriert, in dem Leben portionierbar geworden ist. Anonymisiert und abgepackt, wie die Heringe in der Fischkonservenfabrik.

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Mittwoch, 30. März 2005
Frederick Wiseman Retro: Ballett (USA 1995)
mr.okada | 30. März 05 | Topic 'Retrospektiven'

Das American Ballett Theatre in New York steht im Mittelpunkt dieser Betrachtung. Etwa drei Stunden lang zeigt Wiseman Tänzer und Choreographen bei der Arbeit, sitzt bei Bewerbungsgesprächen dabei und folgt der „Company“ nach Europa, nach Athen und nach Kopenhagen. Es ist die Intensität mit der die Beteiligten ihrem Beruf nachgehen, auf die es der Film abgesehen hat. Die einzelnen Sequenzen sind lang genug, um einen Einblick in den Arbeitsprozeß zu erhalten.

Es ist eine stark in sich verkapselte Welt. Ich glaube es gibt lediglich eine einzige Sequenz im gesamten Film, in dem die Protagonisten aus ihrem gewohnten Umfeld herausgelöst werden, im Tivoli in Kopenhagen ist das. Dort orientieren sie sich anhand eines Übersichtsplans und haben mit einem Mal die Aura des Außergewöhnlichen abgestreift. Das ist für den Zuschauer ganz deutlich wahrnehmbar und hat mich überrascht. Dann gibt es noch eine zweite Sequenz, in einem griechischen Lokal, in dem die Aufführung gefeiert wird. Aber auch hier steht der Tanz, das Spiel mit dem Körper im Vordergrund.

Atemberaubend war der Ausschnitt einer Aufführung von Romeo und Julia, ernüchternd das Abgleichen des eigenen Spiegelbilds mit den durchtrainierten Körpern der Tänzer. Dieser leicht eifersüchtige Ausdruck findet sich auch in den Gesichtern der griechischen Restaurantgäste, die säuerlich das balzende Hüftkreisen eines besonders knackigen Mitglieds der Company beobachten.

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Dienstag, 29. März 2005
Frederick Wiseman Retro: Aspen (USA 1991)
mr.okada | 29. März 05 | Topic 'Retrospektiven'

Eine Kleinstadt in den Rockies, nicht so weit weg von Denver. Man denkt an Celebrities im Schnee, an Après-Ski mit Champagner und unbezahlbare Chalets. Dahinter stehen, wie immer, Angestellte und Arbeiter, Lehrer und Arbeitslose, Latinos und alleinerziehende Frauen. Wiseman geht es um die Menschen die aus Aspen erst eine Stadt machen, nicht um den Jet-Set. Es geht um das Zusammenkommen an einem so widersprüchlichen Ort, der am Ende doch ein Ort ist wie jeder andere.

Illustriert wird das Thema über die Skipisten. Immer wieder werden entsprechende Sequenzen in den Film eingestreut. Das macht strukturell Sinn, insofern die Skifahrerei wie eine Kapitelüberschrift funktioniert, der jeweils ein neuer Ansatz der Annäherung folgt. Noch mehr jedoch hat das mit Rhythmus zu tun, überhaupt vielleicht der faszinierendste Aspekt an Wisemans Filmen, die mir manchmal erscheinen wie unaufdringliche Kammermusik. Im Lauf der etwa 2 1/2 Stunden beobachtet man Bibelkreise, Diskussionsgruppen, Kunstinteressierte oder befremdlich wirkende Prediger. Das ist manchmal geistreich und inspirierend, beizeiten amüsant oder irritierend. Die entwaffnende Unvoreingenommenheit führt zu spannenden Neubewertungen beim Betrachter, zumindest gings mir so. Und wenn es mich mal in die Gegend verschlägt, werde ich sicher mal über die Piste wedeln – auf den Skiern, versteht sich.

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